»Vom Ethos der Konkreten Kunst«

von Eugen Gomringer, 2002

Kaum eine Kunst der letzten neunzig Jahre wurde immer wieder ähnlich apodiktisch von Ansprüchen der Moral – und motiviert durch Moral – begleitet wie die Konkrete Kunst. Der Zeugnisse sind viele. Schon 1915 schrieb Hans Arp (nach seinem Selbstzeugnis): »Diese Werke sind Bauten aus Linien, Flächen, Formen, Farben und suchen über das Menschliche hinaus das Unendliche, das Ewige zu erreichen. Sie sollen unsere Ich-Sicht verleugnen.« Später heißt es bei ihm: »Die Konkrete Kunst möchte die Welt verwandeln und sie erträglicher machen. Sie möchte den Menschen vom gefährlichen Wahnsinn, der Eitelkeit, erlösen und das Leben der Menschen vereinfachen. Sie möchte es in die Natur einfügen.«

Und als die Konkrete Kunst ihren Begriff gültig eingeführt hatte, durch den Nationalismus aber zumeist in die innere Emigration gehen musste, blühte sie in der Schweiz geradezu erst auf. Doch selbst da, wo sie durch die Theorie von Max Bill und R.P. Lohse wesentlich pragmatischer wurde, holte sie ihre wahre Begründung im Rückblick auf postulierte ewige Werte. In einem der Bulletins der „Galerie des Eaux Vives“ in Zürich, welche die Konkrete Kunst 1944 und 1945 pflegte und sie verwurzeln half, wird auf Sokrates und Plotin verwiesen, als Ahnherren für die Werte des Einfachen, an sich Schönen und der verborgenen stillen Harmonien der Seele.

Einer der im Geiste von Kandinsky und Mies van der Rohe nach seinem Studium am Bauhaus Prinzipien der beiden Meister weiter durchsetzte, war Rudolf Ortner, zuletzt tätig als freischaffender Künstler in München. Dieser lebendige Geist gründete – wie es in einem Einladungstext zur Ausstellung 1991 in der Villa Stuck in München heißt – im klassischen Konstruktivismus : »Er versucht sich hierbei jedoch weniger in der Fläche als im Architektonisch-Räumlichen. Sein Bemühen ist es, Räume zu erkunden, zu erfühlen und zu gestalten …«.

Man vergegenwärtigt sich diesen Satz und andere Sätze angesichts der Begegnung mit den Bildern von Ina von Jan. Die Künstlerin erlebt moralische und gestalterische Prinzipien der Konkreten Kunst von Grund auf mit ganzer Kraft und erkennt sie als eigene Motivation. Dass sie dabei Elemente und Methoden in Anlehnung an ihren Meister Rudolf Ortner anwendet, ist offensichtlich. Gleichzeitig machen sich aber auch eigene Bildsetzungen bemerkbar. Es sind die Überzeugung und der Ernst, mit welchen Ina von Jan das Uranfängliche der Konkreten Kunst – wie man es von Hans Arp übernehmen konnte – in sich aufgenommen hat und ins Sichtbare bringt, die Bewunderung abverlangen. Die seit Jahrzehnten genährten Zweifel an der Fähigkeit der Konkreten Kunst, noch länger Reinheit und Wahrheit zu vertreten, dürften dabei sich auflösen, wie immer wenn die Prinzipien dieser Kunst mit neuen Augen gesehen, entdeckt werden. In solchen Einzelfällen stimmen die Moral und die zugehörige Kunst allemal.

Als Kunst hat sie sich jedoch auch in der ästhetischen Praxis, d.h. konzeptionell-gestalterisch zu bewähren. Ina von Jan hat sich mit der ihr eigenen Überzeugung auf weiß und schwarz und die Farben gelb, orange, rot und blau eingestellt. Interessant ist, wie sie sich zwar die Linie und die »architektonische« Fläche von Ortner aneignet, sich aber zu einem eigenen Bildaufbau durchgerungen hat. Der bei Ortner oft fast abbildhafte Einbezug architektonischer Elemente findet bei ihr nicht mehr statt. Was sie quasi übernommen hat, ist der Effekt der Dreidimensionalität. Der Bildaufbau besteht fast in der Regel aus Farbflächen und offenen Linienzügen. Mit ungleichen Linienstärken und Flächenumrandungen in einer Nachbarfarbe setzt sie Akzente der »Atmung«. Ungleich zu ihrem Vorbild Ortner sind der rechtwinklige Aufbau ihrer Konstruktionen und die Vorliebe für das Quadrat.

Der Beobachter der Entwicklung der Konstruktiv-Konkreten Kunst hat sich wiederholt auf eine gewisse Abgeschlossenheit der Bewegung eingestellt. Umso mehr wird er überrascht, wenn ebenso oft neue, überzeugte Anhänger wie Ina von Jan ihr ungetrübtes Bekenntnis ablegen. Bemerkenswert an solchen Varianten ist der transzendentale Charakter der Gestaltung, wie er – siehe Hans Arp – uranfänglich erwünscht, zwischenhinein jedoch aus den Programmen verschwunden war.

© Eugen Gomringer. 2002

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