»Die Experimente von Ina von Jan im Lichte gegensätzlicher Ausgangspositionen«

von Eugen Gomringer, 2018

Wer immer sich mit der Kunst der Wahrnehmung von Ina von Jan seit ihren Ansätzen im letzten Jahrhundert beschäftigt, stellt ihre anfängliche Übereinstimmung fest mit der ordnenden Kraft der Konkreten Kunst. Die Liniengebilde und die Farbflächen ihrer Bilder weisen jedoch in transparenten Konstellationen eine Freiheit auf, die Experimente in beiden Bereichen, der Farbe wie der Form, in die Entwicklung einbeziehen lässt.

Folgerichtig wird diese erste Phase mit der zunehmenden Neigung, die quadratische Form im Doppelrahmen ins Blickfeld zu stellen, weiter beobachtet. Sie führt zur Entscheidung, die Wahrnehmung von Farbe und Form in höchster Konzentration im Quadrat zu fokussieren, die an eine der großen Ausgangspositionen der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erinnert – an die Relativität der Farbe in den Interaktionen von Josef Albers.

Diese Blickrichtung ruft andererseits die gegensätzliche Position hervor, die nicht von einer gefestigten Form ausgeht, sondern Freiheit für die Farbe im Manifest von Rupprecht Geiger fordert: „Man muss der Farbe helfen“, das heißt ihr dienstbare Form und freien Raum bieten. Im Kontext der europäischen Kunst ist der Zwischenbereich der beiden Ausgangspositionen wiederholt, oft unbewusst, zu zahllosen Wahrnehmungsexperimenten ausgenutzt worden, unterschiedlich meist durch den Einbezug neuer technischer Mittel oder Winkelzüge der Philosophie.

Im Unterschied zur aktuellen Wiederaufnahme von Farbe-Form-op-art-Effekten hat sich Ina von Jan beharrlich der Vertiefung der Farbwahrnehmung zugewendet und dabei – zum Beispiel mit der Konzentration auf gelb herrlich originäre Resultate erzielt, die den eigenen Farbweg betonten. Sie hat sich damit für den dritten Weg entschieden und hilft der Farbe mit gleichwertiger Erforschung der dienstbaren Form. Wie bereits beschrieben an anderer Stelle hat Ina von Jan auf der Suche nach Steigerung der Wahrnehmungskonzeption und – Rezeption sich ebenso ihrer linearen Konstruktion erinnert und diese präzise den quadratischen Farbflächen zugeordnet.

Selbstverständlich ist, dass sie sich bei ihrer Materialprüfung auch mit den Qualitäten des Acrylglases vertraut machte. Der schon in den Bildern konkreter Konstellationen bemerkte Charakterzug zu räumlicher Transparenz, findet im Acrylglasobjekt die geeignete materiale Unterstützung bzw. Anregung. Im großzügigen Umgang mit dem Industrieprodukt, um sich seine Dienstbarkeit für das künstlerische Konzept nach jeder Seite hin zu sichern, geht Ina von Jan ebenfalls sehr konsequent vor. Sie benützt es in Teilen, die scharf kalkuliert einer Flächenkomposition dienen, womit das Thema der Interaktion der Farben gleich in mehrfacher Hinsicht zum Tragen kommt: So wie die Stufen der drei oder vier Quadrate bei Josef Albers in ihrer Ganzheit eine über die Zweidimensionalität zur geheimnisvollen Dreidimensionalität steigernde Wirkung erzielen, gelingt Ina von Jan das selbe Überraschungsmoment mit dem Einsatz der neuen Mittel, wobei ihr für die Wahl einer ästhetischen Ordnung weit mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Der Erfolg der Acrylglasobjekte von Ina von Jan beruht auf Experimenten mit neuer Orientierung im weiten Feld der Möglichkeiten, die sich durch Internet und Algorithmus ergeben haben. Gegen deren Oberflächlichkeit ohne Transparenz und Tiefenwirkung regen sich allgemein der Wiedergewinn und die Durchsetzung von Analogie im Digitalen. Hier sind die Bilder von Ina von Jan Pionierleistungen für neue Perspektiven, wobei die Schlüssigkeit und die Gesetzmäßigkeiten der konkreten Basis, die sich die Künstlerin früh erworben hat, in Erinnerung treten.

© Eugen Gomringer. Oktober 2018

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